Rede der Hauptamtlichen Kreisbeigeordneten Dr. Christiane Schmahl zum Volkstrauertag, gehalten in Nidda:
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir haben uns heute hier versammelt, um am Volkstrauertag der Toten durch Kriege und Schreckensherrschaft zu gedenken.
Volkstrauertag, dieser Tag hat seinen Ursprung letztlich vor genau 100 Jahren. 1914 begann der Erste Weltkrieg. Nach dem Erfolg im Deutsch-französischen Krieg 1870/71, dem die deutsche Einigung und der Aufstieg Deutschlands zur Weltmacht folgten, gab es in Deutschland eine große Kriegsbegeisterung. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung zogen die Soldaten mit Fanfarenklängen an die Front. Doch die Begeisterung verflog schnell. Vier Jahre Krieg brachten nicht nur Hunger und Entbehrungen für die Zivilbevölkerung, sie forderten im grausamen Stellungskrieg auch Millionen Tote und Verwundete, die oft mit grässlichen Verstümmelungen heimkehrten. In vielen literarischen Zeugnissen wird dies eindrucksvoll geschildert, ich erinnere nur an Remarques „Im Westen nichts Neues“ oder an den „Heeresbericht“ von Edlef Köppen, der übrigens hier in der Nähe in Gießen an den Folgen seiner Kriegsverletzung starb.
Der Begeisterung folgte so nach der Niederlage Ernüchterung und unendliches Leid.
Aus diesem Leid heraus entwickelte sich nach dem Kriegsende der Gedanke an einen Volkstrauertag zum Gedenken an die gefallenen deutschen Soldaten. Und die Betonung liegt hierbei durchaus auf deutsche Soldaten, denn in der Weimarer Republik etablierte sich dieser Gedenktag vor allem in restaurativen und republikfeindlichen Kreisen. Ihnen waren die Toten anderer Länder kein Gedenken wert. So war es fast folgerichtig, dass die Nationalsozialisten dies aufgriffen und den Volkstrauertag zum „Heldengedenktag“ umfunktionierten und als Teil ihrer menschenverachtenden Ideologie missbrauchten.
Wohin dies geführt hat, wissen wir alle – in einen neuen Krieg, mit noch schlimmeren Folgen, noch mehr Toten, mit einer bis heute spürbaren Umwälzung Europas und der fast vollständigen Vernichtung des europäischen Judentums.
Den Völkern Europas, zumindest Westeuropas, ist es jedoch gelungen, Lehren aus dieser unendlichen Tragödie zu ziehen. Beispielhaft war hier der Versöhnungsprozess zwischen Deutschland und Frankreich, der gezeigt hat, wie sich die langjährige Feindschaft in eine dauerhafte Freundschaft verwandeln lässt.
Diesem Lernprozess nach dem zweiten Weltkrieg verdanken wir die Europäische Einigung und eine seit nunmehr fast siebzig Jahren andauernde Periode des Friedens in Westeuropa mit wirtschaftlichem Wohlstand und politischer Stabilität. Zwei Generationen, die keinen Krieg kennen – das ist in der Rückschau eine wahrlich großartige Leistung der europäischen Politik.
Aber – ja, ich denke, hier ist ein großes Aber angebracht. Denn wenn ich von dieser Errungenschaft der langen Friedensperiode als Leistung der europäischen Politik spreche, so ist dies durchaus wörtlich zu verstehen: Als Leistung, als ein Erfolg harter Arbeit, verbunden mit Zugeständnissen an die Partner. Und auch nur unter diesen Voraussetzungen kann der Friede erhalten bleiben. Er muss ständig neu erarbeitet werden, die Kompromisslosigkeit, die in die Kriege der Vergangenheit geführt hat, darf sich nicht wiederholen.
Gerade das sehen wir heute gefährdet: In fast allen Ländern Europas gibt es europakritische und europafeindliche Strömungen, die Zulauf haben und Wahlerfolge verbuchen können. Auch bei uns in Deutschland ist dies im letzten Jahr virulent geworden, und nach der Wahl im Mai sitzen auch deutsche Europakritiker im EU-Parlament.
Deshalb gilt es, dass wir uns immer wieder bewusst machen, dass Europa und die Europäische Union nicht das bürokratische und unser Geld verschlingende Monster ist, wie es uns mache glauben machen wollen, sondern der Garant für Frieden und Wohlstand in Europa. Hierfür gilt es zu arbeiten und einzutreten.
Aber auch ganz konkret sehen wir den Frieden in Europa gefährdet. Waren es zunächst die kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan, so ist es aktuell die Auseinandersetzung in der Ukraine. Hier kämpfen Europäer gegeneinander. Zwar erscheint manchen dies weit weg, aber die Auswirkungen der Sanktionen gegen Rußland werden auch hier spürbar: Unsere Landwirtschaft verliert Abnehmer und spürt einen Preisverfall bei ihren Produkten, die Industrie ist durch Lieferverbote betroffen. Auch hat deswegen Schwierigkeiten. Das zeigt uns, wie sensibel unsere Wirtschaft ist und wie sehr wir auf Frieden, der unbeschränkte Handelsbeziehungen sichert, angewiesen sind.
Frieden, meine Damen und Herren, das ist eine der Lehren der Vergangenheit, muss gesichert werden. Dies tut die Bundesrepublik als ein Partner der Weltgemeinschaft durch die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Als es 1999 zum ersten Einsatz im Kosovo-Krieg kam, war das gerade für meine Partei, die Grünen, ein äußerst schmerzhafter Prozess. Viele pazifistisch geprägte Mitglieder der Grünen konnten diesen Weg nicht mitgehen und haben die Partei verlassen. Aber ich denke in der Rückschau kann man eindeutig sagen, dass es richtig war diesen Schritt zu gehen und damit zur dauerhaften Sicherung des Friedens auf dem Balkan beizutragen.
Ja, ich halte es für richtig und geboten, dass sich die Bundesrepublik aus humanitären Gründen an solchen Friedensmissionen beteiligt. Denn hier geht es immer um den Schutz von Menschen, besonders von Frauen, Kindern, der Zivilbevölkerung, um Vermeidung von unschuldigen Opfern von eigentlich immer sinnlosen Auseinandersetzungen.
Leider bleiben auch solche Einsätze nicht ohne Opfer. Über 100 Bundeswehrsoldaten sind bei Auslandseinsätzen ums Leben gekommen, viele wurden verletzt oder traumatisiert. Auch Ihnen gilt heute in besonderem Maße unser Mitgefühl.
Aber wir haben heute auch der Opfer von Krieg, Not und Schrecken in vielen Gebieten in der Welt zu gedenken. Fast täglich wird uns das deutlich gemacht in den Nachrichten aus Syrien und dem Irak, wo nun schon seit Jahren ein Bürgerkrieg tobt und die Islamisten der IS die Situation ausnutzen, um eine Schreckensherrschaft zu errichten.
Viele Flüchtlinge kommen durch diese Entwicklungen zur Zeit auch zu uns nach Deutschland. Die Aufnahmelager sind überfüllt, und in Gießen, wo sich die hessische Erstaufnahmeeinrichtung befindet, fallen die Flüchtlinge im Straßenbild auf. Wenn wir uns am heutigen Tag an die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten erinnern, so müssen wir auch an viele unserer Landsleute im Dritten Reich denken, die im Ausland Schutz vor Verfolgung und Tod gefunden haben. Genauso müssen wir an die vielen Tausende denken, die umgekommen sind, weil sie eben genau das nicht gefunden haben, weil eben schon damals die potentiellen Aufnahmeländer eine „Das Boot ist voll“-Politik betrieben und deutsche, vor allem jüdische Flüchtlinge nicht aufgenommen haben. So müssen wir den Staaten, die damals Flüchtlinge gerettet haben, unendlich dankbar sein – gleichzeitig aber müssen wir uns fragen, wieviel mehr Menschen hätten gerettet werden können, wenn manche Staaten noch aufnahmebereiter gewesen wären?
Angesichts der derzeitigen Flüchtlingswelle stehen wir vor einer ganz ähnlichen Problematik. Müssen wir uns eingedenk dieser Vergangenheit nicht fragen, ob wir mehr tun können? Können wir es verantworten, hier restritiv zu sein, während weitaus ärmere Länder bis an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit, ja darüber hinaus Flüchtlinge aufnehmen?
Meine Antwort vor dem historischen Hintergrund ist hier eindeutig. Ich halte es für richtig, Flüchtlinge aufzunehmen und Flüchtlinge in anderen Fluchtgebieten zu unterstützen. Aber das bedingt auch eine gute Betreuung um eine Integration zu ermöglichen und den Menschen eine Perspektive zu geben, dann werden auch wir davon profitieren, denn angesichts des demographischen Wandels können wir diese Zuwanderung nicht nur verkraften, sondern wir brauchen sie auch.
Meine Damen und Herren,
wir haben in diesem Jahr auch ein neues Aufkommen des Antisemitismus erlebt, der sich in vielen Demonstrationen offen gezeigt hat, meist in Verbindung mit Israelfeindlichkeit. Islamisten, Rechts- und Linksextreme stoßen hier oft ins gleiche Horn. Dem gilt es entschieden entgegen zu treten. Kritik an Israel ist selbstverständlich möglich, aber wer die Existenz Israels und unsere Solidarität mit dem Staat Israel in Frage stellt, hat eindeutig die Grenzen überschritten. Angesichts des Vergangenen muss unsere Grundhaltung eindeutig sein: Nie wieder Judenfeindschaft, nie wieder Antisemitismus, in welcher Form auch immer!
So lassen Sie uns an diesem Tag der Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaft gedenken, lassen Sie uns bewusst werden, glücklich wir uns schätzen können, in Frieden und Demokratie zu leben. Lassen Sie uns aber auch immer der Tatsache bewusst sein, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist und dass es deshalb unsere Verpflichtung ist und es sich lohnt, für diese Werte immer und überall einzustehen und zu kämpfen.