Die aktuellen Diskussionen über die Beschneidung von Jungen verfolge ich interessiert. Es freut mich, dass viele Bürgerinnen und Bürger Kinderrechte mittlerweile ernst nehmen. Erst vor Kurzem, nämlich am 2. November 2000, wurde unter der rot-grünen Regierung das Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung verabschiedet, in dem deutlich gemacht wird, dass Kinder auch gegenüber ihren Eltern Rechte besitzen und Gewalt nie zum Wohl des Kindes ist. Besonders dieses Gesetz hat in den vergangenen Jahren zu einem sehr zu begrüßenden Bewusstseinswandel in der Bevölkerung geführt.
Das Recht auf gewaltfreie Erziehung ist nun vom Landgericht Köln neben dem Recht auf körperliche Unversehrtheit herangezogen worden, um in der Entscheidung vom 07. Mai 2012 zu begründen, dass eine Beschneidung eines Jungen eine rechtswidrige Körperverletzung sei (Az. 151 Ns 169/11). Auch wenn dieses Urteil für andere Strafgerichte keine bindende Wirkung hat, entfaltete sich eine heftige Debatte über das Für und Wider von Beschneidungen an Jungen. Um Kinder zu schützen müsse der Staat diesen Eingriff verbieten, meinen einige, so wie in Deutschland auch die Beschneidung von Mädchen und Frauen verboten sei. Der Eingriff sei aus Sicht der Verbotsbefürworter medizinisch unnötig, schädlich gar, und für die Jungen traumatisch. Verbotsskeptiker sagen, die Beschneidung sei fundamental für die Religionspraxis der Juden und Muslime. Ein Verbot liefe darauf hinaus, religiöse Minderheiten zu diskriminieren.
Die Auseinandersetzung über das Urteil des Kölner Landgerichts war keine Glanzstunde des politischen Diskurses in Deutschland. Vertreter beider Seiten haben durch überspitzte Beiträge die Debatte unnötig aufgeheizt. Mit ätzendem Tonfall, Unterstellungen, Herabwürdigungen und sturem Beharren auf eigenen Positionen wird ein Konflikt zwischen Grundrechten nicht gelöst. Befürwortern und Gegnern rate ich dringend, nicht die Bereitschaft zu verlieren, die eigene Meinung ebenso kritisch zu hinterfragen wie die der anderen Debattenteilnehmer.
Vor diesem Hintergrund brachten die Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP einen Eilantrag in den Bundestag ein, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, die Beschneidung von Jungen zu regeln (Drucksache 17/10331 vom 19.07.2012). Dieser Antrag wurde von der Mehrheit der Abgeordneten angenommen. Auch ich habe ihm zugestimmt. Der Antrag wurde und wird heftig kritisiert, weil er der Entscheidung des Landgericht Köln inhaltlich nicht folgt. Das Landgericht hatte das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit als verfassungsimmanente Grenze der Grundrechte der Eltern gewertet. Die sei die „wohl herrschende Auffassung in der Literatur“, führte das Gericht in der Urteilsbegründung aus. Tatsächlich erschienen in den letzten Jahren einige Abhandlungen, die die Beschneidung von Jungen mit dieser Argumentation ablehnen. Darauf, dass diese Sichtweise aber nicht die dominierende Deutung der deutschen Rechtswissenschaft abbildet, ist im Anschluss an die Urteilsverkündung mehrfach hingewiesen worden (zuletzt und im Detail von Prof. Werner Beulke und Dr. Annika Dießner in der Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, Nr. 7/2012, S. 337-346).
Auch die Politikerinnen und Politiker, die dem Antrag 17/10331 zustimmten, sind zu einem anderen Schluss gekommen als das Landgericht Köln. Angesichts des hohen Stellenwert, den der Schutz des Kindes in Deutschland mittlerweile – nicht zuletzt dank der Arbeit der Grünen – einnimmt, mag dieser Schluss auf den ersten Blick verwundern. Ich möchte ihn deswegen gerne erklären.
Im Fall der Beschneidung von Jungen sind mehrere Grundrechte betroffen. Die Verbotsbefürworter meinen, dass das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit die anderen betroffenen Grundrechte aussteche. Doch die Verfassung Deutschlands lässt nicht zu, dass ein Grundrecht die Verletzung oder Nichtverletzung anderer Grundrechte erzwingt. Es gilt das Prinzip der praktischen Konkordanz von Grundrechten: Im Fall des Konflikts zwischen Grundrechten darf nicht eines bevorzugt und in Maximalform durchgesetzt werden, sondern es soll ein für alle möglichst schonenden Ausgleich angestrebt werden. Es ist schließlich das Wesen von Grundrechten, also der verfassungsmäßig verwirklichten Menschenrechten, dass sie nicht verschwinden oder gegeneinander aufgerechnet werden. Man kann also weder sagen, dass die Beschneidung von Jungen aufgrund des Rechts auf körperliche Unversehrtheit verboten ist, noch kann man sagen, dass sie aufgrund des Rechts auf Religionsfreiheit erlaubt ist. Denn diese Rechte können nur dann begrenzt werden, wenn sie sittenwidrig oder lebensgefährlich ausgelebt werden oder die öffentliche Ordnung gefährdet wird.
Lebensgefährlich ist die Beschneidung von Jungen offensichtlich nicht. Des Weiteren ist bislang von der deutschen Rechtsprechung bestätigt worden, dass die Überzeugung, einer religiösen Pflicht entsprechen zu müssen, nicht gegen die guten Sitten verstößt, sogar dann nicht, wenn sie zulasten des jeweiligen Gläubigen geht. Die öffentliche Ordnung hingegen ist gekennzeichnet durch die Menschenwürde, der Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz und der Grundrechte, das heißt auch aus der Religionsfreiheit und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es gibt also keine Abkürzung, die den mühsamen Weg der Abwägung im Sinne der praktischen Konkordanz erspart. Diese Rechtsgüter möglichst optimal abzuwägen, hat der Bundestag nun von der Bundesregierung gefordert.
Gefordert ist im Antrag 17/10331, „dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidungvon Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig“ sein soll. Ich teile diese Forderung. Unstrittig ist, dass die Beschneidung von Jungen im Sinn des Grundgesetzes in den Schutzbereich der Religionsfreiheit fällt: Sie ist schließlich kein traditioneller Akt, der ohne nachvollziehbare Grundlage erfolgt. Die Beschneidung der männlichen Neugeborenen symbolisiert im Alten Testament, dass sie in den Bund Gottes mit Israel aufgenommen werden (Genesis 17, 9-14, 23-27). Sie muss am achten Lebenstag durchgeführt werden (Genesis 17, 12 und 21, 4). In manchen christlichen Gemeinden werden ebenfalls auf Grundlage dieser Textstellen des Alten Testaments Jungen beschnitten (insb. in den USA). Im Islam ist die Beschneidung der Jungen in der zweiten Quelle der Rechtsfindung, der Sunna (ein Korpus von Lebensregeln, die direkt auf das Vorbild Muhammads zurückgeführt werden) erwähnt. Sie gilt in einigen Rechtsschulen als Pflicht, in den übrigen als empfohlene Handlung, ohne die mitunter Gebete unwirksam würden.
Man muss nicht selbst gläubig sein, um nachvollziehen zu können, dass es Gläubigen sehr wichtig sein kann, diesen religiösen Vorgaben gerecht zu werden. Dieser Wunsch kann auch in der juristischen Abwägung nicht einfach beiseite gewischt werden, wie es bspw. der Strafrechtsprofessor Holm Putzke mit dem süffisanten Hinweis tut, dass den Gerichten die Sorge um das „Seelenheil nach dem Tode“ egal sein müsse (im Aufsatz „Die strafrechtliche Relevanz der Beschneidung von Knaben“ von 2008). Dass auch der Schutz von Handlungen, die von dieser Sorge motiviert sind, der Sinn des Rechts auf Religionsfreiheit ist, übersieht diese Position ebenso wie die detaillierten Auseinandersetzungen unter Juristen darüber, welche Handlungen mit dem Verweis auf religiöse Notwendigkeit gerechtfertigt werden können und welche nicht. Religionsfreiheit ist kein Freibrief und war auch nie einer. Das Recht auf Religionsfreiheit garantiert aber, dass religiöse Überzeugungen innerhalb der Rechtsprechung und Rechtsetzung unseres weitgehend säkularen Staats berücksichtigt werden.
Bislang ist man in Deutschland davon ausgegangen, dass es dem Kindeswohl dient, wenn Eltern ihre Kinder gemäß ihres Glaubens erziehen, sofern diese Erziehung die Kinder nicht entwürdigt oder in Lebensgefahr bringt. Man legt in Deutschland die Religionsfreiheit weit aus, nämlich auch als Schutzrecht des Gläubigen gegen den Staat. Das heißt, dass der Staat begründen muss, warum er in die private Lebensgestaltung seiner Bürgerinnen und Bürger eingreift. Im Fall der Beschneidung wäre eine staatliche Intervention im Sinne der Verbotsbefürworter notwendig, um eine Körperverletzung zu verhindern. Diese Position vernachlässigt aber, dass körperliche Unversehrtheit nicht immer bedeutet, dass ein Körper frei von Eingriffen bleibt. So ist nach religiösem Verständnis erst ein beschnittener Junge körperlich unversehrt. Diese Sichtweise mag für Ungläubige intuitiv nicht nachvollziehbar sein, sie ist aber durch die in unserer Verfassung verankerte Religionsfreiheit geschützt. „Die Religionsfreiheit bildet … einen subjektiv-rechtlichen Schutz vor einer religiös oder weltanschaulich vorurteilsbefrachteten, nur scheinbar ‚objektiven‘ Werterkenntnis über einen gesellschaftsfähigen Umgang mit dem eigenen Körper“, schreibt beispielsweise Professor Michael Germann in seinem Aufsatz „Der menschliche Körper als Gegenstand der Religionsfreiheit“ von 2010. Weil die Beschneidung von Jungen gemeinhin als Eingriff verstanden wird, der medizinisch nicht empfehlenswert, aber immerhin risikoarm ist, wenn er von Ärzten durchgeführt wird, sehe ich keine Notwendigkeit, einen Eingriff zu verbieten, der von Gläubigen gemeinhin als zwingend erforderlich angesehen wird. Ob der Eingriff sinnvoll oder unsinnig ist, ist nicht erheblich: Der Staat soll sich nicht in die Religionspraktiken seiner Bürgerinnen und Bürgern einmischen, solange diese Handlungen nicht das weltliche Wohlergehen gravierend einschränken, also zum Beispiel entwürdigend sind oder den öffentlichen Frieden beeinträchtigen.
Weil aber fraglos ein Eingriff an einem unmündigen Kind vorgenommen wird, der medizinisch nicht begründet ist, hat der Staat Sorge dafür zu tragen, dass er nach allen Regeln der Kunst ausgeführt wird. Hilfreich können hier die Erfahrungen in anderen europäischen Staaten sein: In Schweden ist seit 2001 die Beschneidung von Jungen nur erlaubt, wenn sie von einem Arzt oder einen besonders zertifizierten Vertreter einer Religionsgemeinschaft vorgenommen wird. Eine Betäubung des Kindes ist ebenso zwingend erforderlich wie die Zustimmung beider Elternteile. Beide Elemente sollten in Deutschland ebenfalls vorgeschrieben werden. Es ist den Jungen jedenfalls nicht geholfen, wenn die Praxis der Beschneidung in die Illegalität gedrängt würde. In Hinterzimmern ist die medizinische Versorgung nicht besser als in einer Arztpraxis oder einem Krankenhaus.
Nun könnte man sagen, dass das eingangs erwähnte Recht auf gewaltfreie Erziehung im Fall der Beschneidung von Jungen Anwendung finden sollte. Doch in Deutschland werden ärztliche Eingriffe juristisch nicht als Gewalt aufgefasst, solange Patienten oder ihre Vertreter einwilligen. Dabei ist weitgehend irrelevant, ob die Eingriffe medizinisch notwendig sind oder nicht. Einen Änderungsbedarf an dieser fundamentalen Rechtsauffassung sehe ich auch nicht durch Fälle von Beschneidung von Jungen. Zudem ist die Beschneidung im Gegensatz zur Tracht Prügel kein Akt der Bestrafung, sondern ein positiv besetzter Initiationsritus. Es würde die Grenzen der in Deutschland möglichen religiösen Pluralität unverhältnismäßig verengen, wenn die Aufnahme eines Menschen in eine religiöse Gemeinschaft als erzieherische Gewalt im gesetzlichen Sinn eingestuft würde.
Ich begrüße, wenn in den Religionsgemeinschaften über Alternativen zur Beschneidung unmündiger Jungen diskutiert wird. Ein weltanschaulich neutraler Staat darf den Ergebnissen dieser Diskussionen nicht vorgreifen. Man sollte diese Reformbemühungen auch nicht dafür instrumentalisieren, ein rechtsstaatliches Problem zu lösen. Es leuchtet mir auch nicht ein, dass Reformen in Glaubensgemeinschaften dadurch herbeigeführt werden sollten, indem das Strafrecht – also die schärfste Waffe des Staats – zu Ungunsten der betroffenen Glaubensgemeinschaften verändert wird. Die Bedingung der staatlichen Zurückhaltung ist, dass die Bewertung der Folgen des Eingriffs weiterhin als erträglich von Staats wegen eingestuft werden. Es gibt zweifelsohne Fälle von Traumata und Komplikationen. Sie geben aber nicht her, zu generellen Folgen des Eingriffs verallgemeinert zu werden. Hier liegt unter anderem ein Unterschied zur Beschneidung von Mädchen. Bei jenem Eingriff sind schwere körperliche und psychische Schäden, lebenslange Einschränkungen des sexuellen Empfindens oder gar Funktionsverluste des Körpers bis hin zu Unfruchtbarkeit sowie schwere bis hin zu lebensgefährlichen Komplikationen die Regel. Darüber hinaus ist die Beschneidung von Mädchen in keinem heiligen Text vorgeschrieben.
Auch wenn ich persönlich den Sinn religiöser Rituale generell nur begrenzt nachvollziehen kann, ist aus meiner Sicht ein Verbot der Beschneidung von Jungen menschenrechtlich bzw. verfassungsmäßig nicht gerechtfertigt. Deswegen habe ich für den Antrag 17/10331 gestimmt, obwohl für die Eile, mit der der Antrag eingebracht und beschlossen wurde, nichts spricht. Man muss der Debatte mehr Raum und Zeit geben. Wenn im Herbst der Gesetzesentwurf vorliegt, wird er wahrscheinlich ebenso heftig und emotional diskutiert und kommentiert werden wie das Urteil des Kölner Landgerichts und der Bundestagsantrag. Ich werde mich an dieser Debatte weiter beteiligen und mich über jeden Schritt in Richtung Liberalität freuen. Wie in jedem Fall, in dem Menschenrechte kollidieren, stünde es auch in der aktuellen Debatte um die Beschneidung von Jungen allen Beteiligten gut zu Gesicht, aufgeklärt, tolerant und mit Bedacht zu argumentieren. Der fundamentalistische Tenor, der in dieser Debatte häufig mitschwingt, führt jedenfalls zu nichts.